Theater-AG des Nicolaus-Kistner-Gymnasiums präsentierte „Die Welle“ als gelungene Bühnen-Adaption mit viel Einfühlungsvermögen
Aktion, Gemeinschaft, Disziplin bilden drei zentrale Begriffe bei dem sozialen Schulexperiment „Die Welle“. Die Theater-AG des Nicolaus-Kistner-Gymnasiums setzte die Bühnenadaption von Reinhold Tritt erschreckend lebensnah und zeitlos in Szene.
Mosbach. Eigentlich liegt es ja nahe, „Die Welle“ an einer Schule zu inszenieren. Bilden die Hauptakteure doch allesamt eine Highschool-Klasse im kalifornischen Palo Alto. Doch allein mit 23 Schülerinnen und Schülern in 26 Rollen eine Bühne zu bespielen und nicht zu überfrachten, ist bereits eine logistische Herausforderung – von allem anderen einmal abgesehen. Der Theater-AG des Mosbacher Nicolaus-Kistner-Gymnasiums gelang dieser Tage „Die Welle“ nach der berühmten Buchvorlage von Morton Rhue aus dem Jahr 1981 bedrückend frisch.
Das wirkte weniger wie das zugrunde liegende Sozialexperiment aus dem Jahr 1967, sondern zeitlos im Hier und Heute angekommen. Die Bewunderung für eine durch die Bank grandiose Schauspielleistung gebührt dem gesamten Ensemble, der Regieriege von Natascha Ostertag, Katrin Mai und Schulsozialarbeiter Manuel Zin sowie dem aufgeweckten Technik-Team. Die wunderbar vernetzte Truppe spielte auch mal inmitten der Stuhlreihen mit ihren rund 200 Zuschauern.
Zwischen Cheerleader-Auftritt und Psychologen-Couch entfaltete sich im musischen Trakt des NKG ein echtes Schullabor, das die Entstehungsbedingungen autoritär-faschistischer Systeme genau unter die Lupe nahm – bis hin zum verführerischen Gemeinschaftsgefühl. Kein Wunder, dass Schulleiter Jochen Herkert am Ende der Vorstellung das Wort der „Sternstunde“ wählte, um all das auf den Punkt zu bringen.
Rasant wechseln die Szenen zwischen Bühne und Saal, dennoch wirkt hier nichts gehetzt. Zwei Räume sind Richtung erste Reihe vorversetzt, ein Ess- und ein Wohnzimmer. Als Klammer fungiert das Freud’sche Therapeutensofa, auf dem Außenseiter Robert (Judah Alze) der Psychologin (Hanne Schork) vom Leben vor, nach und während der Welle berichtet.
Da er zu langsam für Basketball ist, greift Robert lieber zum Buch. Gleichwohl mobben ihn viele Klassenkameraden. Bis eines Tages Lehrerin Valentina Ross (Claire Miller) einen Film über die NS-Diktatur und den Holocaust zeigt. „Das ist doch längst vorbei.“ „Ich bin nicht schuld.“ „Sie hätten weglaufen und sich wehren können“, lauten die Kommentare der Schüler. Dass eine Diktatur auch heute möglich wäre, das will keiner glauben.
Hier beginnt das soziale Experiment der Lehrerin – mit den erstaunlichsten Folgen. Denn bereits ihr Aufruf zur Disziplin kommt bei den Schülern bestens an. „Ich war überrascht, alle haben mitgemacht“, berichtet Valentina am Abend ihrer Frau Bella Ross (Kuma Pleyer Hernandez). Die Dialoge der beiden – wunderbar gegendert! – entwickeln sich bald zu einer Art Gewissensinstanz: „Du hast kleine Monster geschaffen“, warnt Bella noch. Doch da schwappt die Welle schon kräftig weiter. Ein Slogan wie „Macht durch Disziplin!“ verdeutlicht das neue Wirgefühl; ein Gruß, Mitgliedsausweise und Aktionen folgen.
Während Robert vom Außenseiter zum glühenden Anhänger mutiert, durchschaut die Klassenbeste Laurie (Alyssa Ickert) schnell, wohin die Reise geht: „Jeder vergisst sich selbst – willst du in der Masse sein?“, fragt die Redakteurin der Schülerzeitung Kollegin Alexa (Lina Rudolphi). „Ihr seid wie hypnotisiert“, wirft Laurie ihrem Freund, dem Schulbasketballstar David (Apostolos Gountenidis) an den Kopf. Der sitzt bald zwischen vielen Stühlen, entscheidet sich – nach einer Handgreiflichkeit, über die er selbst rasch erschrickt – für die richtige Seite.
Bis beim großen Finale die Geschichtslehrerin das Experiment auflöst – und Adolf Hitlers Porträt nicht von ungefähr über den Bühnenhintergrund flimmert – erleben die Zuschauer einen Theaterabend voller Spannung und Drive. Die Basketballer (Timo Gregotsch, Jakob Damm, Amon Kühnel) haben ihren großen Auftritt, den die Cheerleaderinnen (Anna-Lena Spohn, Mathea Leptich, Damla Toktas, Mara Schick) mit einer energiegeladenen Choreografie im Saal anheizen. An vielen Stellen glitzern kreative Details auf. Da trägt die Schulleiterin den Namen Haircut (Lisa Weber), der nicht von ungefähr fast wie Herkert klingt. Dort stand Katsushika Hokusai mit dem Motiv der großen Welle von Kanagawa Pate für ein Emblem. Klug eingesetzt wird auch die digitale Bühnenrückwand, die ein aufwendiges Bühnenbild vielfach ersetzen kann.
„Wir alle sind anfällig für faschistoides Denken. Wir wollen ein Zeichen setzten gegen Rassismus, Ausgrenzung, Homophobie und Machtmissbrauch“, betonen die Regisseurinnen nach dem triumphalen Schlussapplaus und loben: „Ihr wart super, ihr seid ganz tolle Menschen, bleibt so, wie ihr seid.“ „Hier oben fließen die Tränen, heute ist hier Geschichte geschrieben worden, das ist eine Sternstunde des NKG“, erklärt (der echte) Schulleiter Herkert und bezieht damit auch die Ensemblemitglieder Pauline Sigmund, Salomé Thomas, Rebecca Leipold, Josephine Leptich, Sarah Mhimdat, Antonia Willmann, Valerie Heck sowie Cilia Schaupp mit ein.
RNZ, Ausgabe vom Freitag, 19.Mai 2023, von Peter Lahr