Ein deutsch-israelischer Schüleraustausch im Zeichen von Vielfalt, Versöhnung und Nachhaltigkeit
„Sie können dir alles nehmen, aber niemals das, was du weißt und was du gelernt hast.“ Mit fester Stimme gibt Hilde Grynbaum-Simcha den Rat ihrer Mutter an die deutsch-israelische Schüleraustauschgruppe weiter. Es ist ganz still im Schulzimmer des ehemaligen Kibbuz Netzer Sereni nahe Tel Aviv. 42 Jugendliche hängen an den Lippen der 99-jährigen Holocaust-Überlebenden. Anschaulich und durchaus humorvoll erzählt die gebürtige Berlinerin von ihrer Kindheit als einzige Tochter eines jüdischen Textilwarengroßhändlers und von ihrer Mutter, die sich nach der Machtergreifung Hitlers stets große Sorgen machte. Sie sollte Recht behalten. Nach der Ausweisung des polnischstämmigen Vaters im November 1938 zerbrach die Familie. Hilde sah ihre Eltern nie wieder. Über ihre Zeit in Auschwitz zu sprechen, fällt ihr sichtlich schwer. Als Mitglied des berühmten Mädchenorchesters überlebte sie das Vernichtungslager und auch den Todesmarsch nach Bergen-Belsen. „Man braucht einen starken Willen“, sagt sie auf Deutsch. Nach ihrer Befreiung wanderte sie als Mitgründerin des Kibbuz Buchenwald nach Palästina aus, gründete eine Familie und fand just an dieser Stelle in Netzer Sereni ein neues Zuhause.
Engagiert beantwortet sie die vielen Fragen der sichtlich bewegten Schülerinnen und Schüler beider Nationen, die nur zwei Tage zuvor zusammen die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem besucht hatten. In der berühmten Hall of Names waren sie gestanden, israelische und deutsche Jugendliche Seite an Seite. Ihnen wird angesichts dieses Stücks gemeinsamer Geschichte einmal mehr der unschätzbare Wert dieser ganz besonderen Freundschaft bewusst, die das Nicolaus-Kistner-Gymnasium Mosbach und die Ben-Yehuda-Highschool in Ness Ziona schon seit 2014 verbindet. Eine Freundschaft, die auf Mut, Offenheit und Vertrauen aufgebaut ist. Und auf dem Willen voneinander zu lernen.
Dies bedeutet für die Jugendlichen im Schüleraustausch zum einen die Vergangenheit aufzuarbeiten und gemeinsam zu gedenken, aber auch sich mit der jeweiligen Gegenwart auseinander zu setzen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten festzustellen um zusammen in eine Richtung zu schauen. So lautet das Motto der diesjährigen Begegnung „Zukunft gemeinsam gestalten – Vielfalt, Versöhnung und Nachhaltigkeit.“ Im Fokus stehen neben historischen Aspekten auch Themen aus den Bereichen Ökologie sowie Frieden und soziale Gerechtigkeit.
Grundlage für eine solche Auseinandersetzung ist das Verständnis der jeweils anderen Kultur mit ihren Denkweisen und Wertvorstellungen. So hatte man im letzten Herbst, als die Israelis zu Gast in Deutschland waren, gemeinsam das Jüdische Museum in Frankfurt sowie das Mosbacher Stadtmuseum und den jüdischen Friedhof in Mosbach besucht. In Israel vervollständigt sich nun das Bild. Im Theodor-Herzl-Museum auf dem Mount of Remembrance in Jerusalem lernen die deutschen Schülerinnen und Schüler anhand einer eindrucksvollen Multimediashow den Begründer des modernen Zionismus kennen. Nach und nach entsteht so ein immer komplexeres Bild des Gastlandes im Hinblick auf seine historische und politische Dimension. Man beginnt zu erahnen, was es auf sich hat mit der viel beschworenen jüdischen Identität. Und immer wieder kommt man ins Gespräch.
Die Gruppe diskutiert die großen Themen wie Demokratie, Gerechtigkeit, Diversität und Chancengleichheit sowie Zukunftsperspektiven in einer globalisierten Welt zu Zeiten des Klimawandels. Gesprächsanlässe bieten diverse Impulse wie z.B. der Besuch der Klimaarena in Sinsheim im Herbst ebenso wie die aktuellen gesellschafts- und staatspolitischen Entwicklungen in Israel und der Nahostkonflikt. Den Schülerinnen und Schülern fällt es leicht miteinander sprechen. Sie kennen sich seit dem Vorjahr, haben in beiden Ländern Alltag in Familie und Schule erlebt, sind zusammen gereist, haben gemeinsam gespielt, gelacht und gefeiert.
Im Rahmen einer eigenen mehrtägigen Reise durch Israel wird das entstandene Bild um weitere Puzzleteile ergänzt. Die deutschen Schülerinnen und Schüler erleben mit ihren Begleitlehrern Hans-Ulrich Gallus, Katrin Mai und Simone Schaupp weitere Facetten dieses spannenden Landes. Hier gibt es atemberaubende Ausblicke vom Kamelrücken auf die Wüste Negev und auf das Tote Meer bei Sonnenuntergang. Ein Streifzug durch die verschiedenen Viertel in der Altstadt Jerusalems sowie der Besuch von Grabeskirche, Klagemauer und Tempelberg führt den Jugendlichen die Bedeutung der „Heiligen Stadt“ als Begegnungsort der verschiedenen Religionen und Kulturen anschaulich vor Augen. Und wie immer sind es die Begegnungen mit Menschen – hier einem Benediktinerpater der Dormitio-Abtei -, die einmal mehr einen Perspektivwechsel ermöglichen. So wird auch der Besuch biblischer Orte wie Tabgha und Kapernaum sowie eine Bootsfahrt auf dem See Genezareth zum besonderen Erlebnis.
Welche Bedeutung dieser Austausch für die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler letztendlich hat, lässt sich den Kunstwerken entnehmen, die im Rahmen eines gemeinsamen Up-cycling Workshops in Tel Aviv-Jaffa entstanden sind. In binationalen Kleingruppen gestalten sie in einer professionellen Werkstatt Skulpturen aus Schrott. Es geht darum im Rahmen eines kreativen Prozesses, ein Sinnbild des Erlebten zu erschaffen. Vom „Clash of Cultures“ über „All men are equal“ bis hin zur Erkundung fremder Welten in einem überaus divers bemannten Raumschiff ist alles vertreten. Die Ergebnisse und ihre thematischen Schwerpunkte sind so unterschiedlich wie die Kunstschaffenden selbst. Allen gemeinsam ist jedoch ein tiefes Verständnis von Toleranz und Offenheit. Kein Zweifel: Alle Beteiligten haben viel gelernt. Sie sind reicher an Erfahrungen, die ihnen – um es mit den Worten von Hilde Grynbaums Mutter zu sagen – niemand jemals mehr wird nehmen können.