Oberstufe des NKG traf Holocaust-Überlebende
Von schreckenvoller Kindheit erzählt
Ein besonderer Vortrag fand am Dienstagvormittag gleich zweimal im großen Musiksaal des Nikolaus-Kistner-Gymnasiums statt. Edith Erbrich berichtete den Klassenstufen 10 bis 12 von ihrem Leben als Kind in einem Konzentrationslager. Dabei wurde sie von Thomas Altmeyer mit einigen Leitfragen begleitet. Altmeyer arbeitet für den „Studienkreis Widerstand 1933–1945“ und ist auch durch seine Mitarbeit in der KZ-Gedenkstätte Neckarelz bekannt. „Es ist wichtig, nicht nur aus Büchern über diese Zeit zu lernen“, eröffnete NKG-Direktor Jochen Herkert den Vortrag. Er bedankte sich nicht nur bei den Vortragenden, sondern auch bei den „Respect-Coaches“ der Caritas, die die Veranstaltung sponsorten, sowie bei Schulsozialarbeiter Manuel Zin für die Organisation. Entstanden war die Idee, eine Holocaust-Überlebende einzuladen, durch einer Schülerinitiative. Kindheit im Krieg Ihre erste Kindheitserinnerung, so lautete Antwort auf die erste Frage von Thomas Altmeyer an Edith Erbrich gestellte Frage, seien die Fliegerangriffe über Frankfurt und damit verbundene Angst und Verlust. Sie habe bis heute lebhafte Erinnerungen an die in Flammen stehende, ausgebombte Wohnung ihrer Familie. Zusätzlich dazu hatte Erbrich in ihrer Kindheit aufgrund ihres Status als Kind einer „Mischehe“ zwischen einem jüdischen Vater und einer christlichen Mutter mit Armut, Unterdrückung und Ausgrenzung zu kämpfen. Ihr Vater konnte trotz kaufmännischer Ausbildung keinen lukrativen Beruf ausüben und wurde schließlich durch die „Arbeitspflicht“, der alle jüdischen Bürger ausgesetzt waren, im Krieg dazu eingestellt, Gräber auszuheben. Ihm und seinen Kindern war der Zugang zu den Schutzbunkern versagt. Es gab einige wenige Rettungsnetzwerke, wie Altmeyer nach einer Schülerfrage erklärte, doch ohne die richtigen Kontakte war es fast unmöglich, ein solches zu finden. Ausgrenzung Erbrich und ihre vier Jahre ältere Schwester konnten, einzig der Barmherzigkeit eines Nachbarn wegen, heimlich in dessen privatem Schutzkeller unterkommen. Der Familie waren unter anderem der Besitz von Fahrrädern, Haustieren und Rundfunkgeräten verboten, sodass sie, um Neuigkeiten zu erfahren stets auf befreundete christliche Familien angewiesen waren. Für Kinder, erzählte Erbrich, war diese Situation unbegreiflich. Sie durfte keine Schule besuchen und musste sich in der Öffentlichkeit stets mit einer Armbinde als jüdisches Kind ausweisen. Wenn sie mit anderen Kindern spielen wollte, geschah das nur im Versteck der Trümmer der zerbombten Gebäude, da die Eltern ihre Kinder oft nicht mit den jüdischen Kindern spielen lassen wollten. Dabei wurde Edith Erbrich gar nicht „rein jüdisch“ erzogen, erklärte sie. Ihre Familie habe stets sowohl den jüdischen als auch den christlichen Glauben gelebt. Das bedeutete, so erzählte Erbrich lächelnd, dass sie immer die doppelte Anzahl an Festen und Feiertagen erleben durfte. Ihre Mutter, erzählte Erbrich, habe über die Jahre viel Mut bewiesen und ihrer Familie vermutlich das Leben gerettet: Hätte sie dem sozialen Druck nachgegeben und sich von ihrem jüdischen Mann scheiden lassen, wäre dieser gemeinsam mit den zwei Töchtern schon viel früher deportiert worden. Deportation So wurden seine Eltern, Erbrichs Großeltern, schon im Jahre 1942 nach Theresienstadt gebracht. Als Erbrich schließlich drei Jahre später im Alter von nur sieben Jahren ebenfalls dort ankam, erkannte sie ihre Großmutter, die sie vorher als „groß und stattlich“ beschrieb, aufgrund von Hunger, Elendsund Altersspuren beinahe nicht wieder. Erbrich beschreibt heute: „Als ich nach meinem Großvater fragte, hat ihre Stimme versagt. Da wusste ich, dass er nicht mehr da war.“ Ihr Großvater habe in Theresienstadt nur wenige Tage gelebt, erklärt sie und weist auf Lügen in den heute erhaltenen Aufzeichnungen hin. Nach seiner Ankunft habe man ihrem bis dahin gesunden Großvater mehrere plötzliche Krankheiten diagnostiziert, die zu seinem „spontanen“ Tod geführt haben sollen. Familien getrennt Trotz ihres besonderen Schutzes durch ihre Mutter musste Erbrich gemeinsam mit ihrer Schwester und ihrem Vater den Zug des letzten großen Transportes aus Frankfurt besteigen. Die Nachricht von der Befreiung in Auschwitz hatte sie schon erreicht bevor sie den Brief erhielten, dass ihre Familie sich am 14. Februar 1945 an der Großmarkthalle in Frankfurt, der heutigen Europäischen Zentralbank, einzufinden habe. Heute ist an der dortigen Gedenkstätte der Frankfurter Großmarkthalle ein Zitat zu finden, an das Erbrich sich bis heute erinnert: Nachdem sich die Tore des Zuges schon geschlossen hatten, wurden sie noch einmal geöffnet und eine Wache rief, man „möge die zwei Mädchen hochheben, die Mutter möchte sie nochmal sehen“. Über die Zustände im Zugwagon erzählte Erbrich: „So darf man heute kein Vieh transportieren“. Sie erinnere sich daran, dass ihr Vater und ihre Schwester, die ein wenig lesen und schreiben konnte, aus dem Zug Postkarten an ihre Mutter schrieben. Diese Postkarten wurden aus dem Zug geworfen und von einigen stillen Helden gesammelt, die sie zur Edith Erbrich erzählte am NKG aus ihrer Kindheit. Alle Postkarten erreichten ihre Mutter, wofür Erbrich sehr dankbar ist. In Theresienstadt angekommen, wurde Erbrich erst von ihrem Vater, später dann von ihrer Schwester getrennt und in eine Gruppe gleichaltriger Mädchen einsortiert. Theresienstadt Heute ist Theresienstadt als eine Art Ausnahmefall bekannt – teils als „Endlösung“, teils als „Zwischenstation“ gedacht, ähnelten die Lebensverhältnisse dort eher einem Ghetto als einem der weiteren Konzentrationslager. Theresienstadt ist unter anderem dafür bekannt, dass den Kindern dort eine erstaunlich hochqualitative Schulbildung zuteilwurde, welche damals den jüdischen Kindern gesetzlich untersagt war. Edith Erbrich blickt jedoch nicht positiv darauf zurück. Als junges Kind ohne vorherige Schulbildung sei ihr das „versteckte Lernen“ nicht als Schaffung neuer Perspektiven, sondern als Pflicht und Qual vorgekommen. Dass sie nicht mit dem Unterrichtsstoff ihrer älteren Schwester mithalten konnte, war einer der Gründe, weshalb sie schließlich voneinander getrennt wurden. Heute erzählt die Senioren, dass sie nach ihrer Befreiung vehement nicht zur Schule gehen wollte, weil sie mit dem Unterricht im KZ so schlechte Erfahrungen und Emotionen verband. Zu ihrem Glück fand sie in der Schule Unterstützung von einer Lehrerin, die ihr half, das Lernen wieder positiv zu betrachten. Dem Tod entronnen Mit dem Begriff „frei“ konnte sie gar nichts anfangen, erinnert sich Erbrich an die Befreiung aus dem Lager am 8. Mai 1945. Die Geräusche der Waffen außerhalb ihres Wohnraumes ließen das junge Mädchen glauben, das Lager würde wie Frankfurt von Fliegerangriffen mit Bomben beworfen. Erst als sie von ihrem Vater abgeholt wurde, hätte sie es langsam zu hoffen gewagt, dass der Aufenthalt im Lager ein Ende haben und ihre Familie wiedervereint werden könne. Auch ihrer Mutter sei es ähnlich ergangen, als sie von Freunden erfuhr, dass ihr Mann mit ihren Töchtern auf dem Heimweg sei: Sie wagte nicht zu hoffen, bis sie ihre geliebten Menschen wieder im Arm halten konnte. Später erfuhren Erbrich und ihre Familie, dass für sie ein Weitertransport im Mai 1945 geplant war, an dessen Ende für sie die Gaskammer gestanden hätte. Sie hatte schon früher von den Techniken der „Vergasung“ erfahren, obwohl ihre Eltern sich Mühe gaben, solche Schreckensnachrichten von ihren Kindern fernzuhalten. So erinnert sich Erbrich, dass sie bei der Aufnahme in das Konzentrationslager Theresienstadt aufgefordert wurde zu duschen und prompt vor Angst ohnmächtig wurde. Doch für Erbrich und ihre Familie nahm die Geschichte, wie nur für wenige ihrer Lagerkameraden, ein gutes Ende. Nur einen Tag nach dem für ihren Tod angesetzten Datum wurde ihr jüngerer Bruder geboren. Leben „danach“ Jahre später fuhr Erbrich gemeinsam mit ihrer Schwester zurück nach Theresienstadt um die Geschehnisse ihrer Kindheit zu verarbeiten. Während ihr Vater sie bat, das Thema ruhen zu lassen, fand sie im Austausch mit ihrer Schwester viel Halt und Stärke. Dennoch sprach sie bis zu ihrer Rente nicht öffentlich über ihr Schicksal, da sie ein möglichst „normales Leben“ führen wollte, das nicht von Mitleid oder Vorurteilen geprägt war. Schließlich fand sie Kontakt zum Studienkreis Widerstand 1933–1945. Als man sie das erste Mal bat, ihre Geschichte zu erzählen, antwortete sie jedoch: „Das interessiert doch keinen Menschen!“ Mittlerweile erzählt Erbrich seit über 20 Jahren ihre Geschichte, u. a. an Schulen. Dass ihre persönlichen Erfahrungen wertvoll sind und wesentlich mehr ausdrücken, als Geschichtsbücher es können, hat Erbrich lange erkannt und sprach auch nach der Veranstaltung lächelnd und offenherzig mit den Schüler/innen. Schulleiter Jochen Herkert bedankte sich im Anschluss bei Edith Erbrich für den Besuch und überreichte einen NKG-Jutebeutel mit einigen kleinen Präsenten.